Aktuelle Predigt

Dies alles hab ich gesehen in den Tagen meines eitlen Lebens: Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde in seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit. Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit. Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen. (Pred 7,15-18)

Liebe Schwestern und Brüder,
letztens musste ich mich auf meine Zunge setzen, als meine Tischnachbarin mir erzählte, sie flöge jetzt übers Wochenende in den Kunstschnee, um Ski zu laufen. Übers Wochenende mit dem Flugzeug in den Kunstschnee... Mein ökologisches Gewissen holte heimlich den Taschenrechner raus und errechnete, dass die Dame allein für 3 Tage mit einer halben Tonne CO2 dabei ist. Aber ich bin ja wohlerzogen und habe nichts gesagt. Man will ja nicht als ökofaschistische Spaßbremse abgestempelt werden.

Vielleicht liegt es an meinem Beruf, vielleicht geht es Ihnen auch manchmal ähnlich: Manchmal hat mensch mehr Zeigefinger, als ihm eigentlich guttun. Ich bin in Gesellschaft ja nie wirklich nur Jan Freiwald, sondern immer zugleich auch Pfarrer Jan Freiwald - Augen auf bei der Berufswahl! Ob ich will oder nicht: Ich repräsentiere immer Kirche. Das sollte eigentlich jede und jeder von uns tun, aber die da draußen sind unendlich talarfixiert. Hat sich was mit Priestertum aller Gläubigen.

„Die Kirche“, die wir repräsentieren, wird von „denen da draußen“ oft als moralinsauertöpfisch wahrgenommen. Nur erhobener Zeigefinger. Manche meinen immer noch, an uns seien Worte wie Emanzipation und Diversität spurlos vorübergegangen, andere haben Moralprediger gehört, die politisch zwar viel Meinung, aber wenig Ahnung hatten. Dabei sind viele da draußen sich einig, dass das Wichtigste am Christen-tum die sogenannten christlichen Werte sind. Was immer das auch sein mag. Für die einen althumanistische Heterosexualität in sogenannten geordneten Verhältnissen, für die anderen klimaneutrale Erbsenproteine aus regionalem Anbau. Gut: auf sowas wie Nächstenliebe könnte man sich vielleicht noch einigen. Aber ganz ehrlich: das ist nicht so rasend speziell christlich. Feindesliebe schon eher und spätestens dann wird’s kompliziert.

Ach ja, und Gerechtigkeit, Gerechtigkeit ist auch gut. Also, wenn wir unser Recht kriegen. Wenn es um das Recht von so ‘nem Kaffeebauern aus Kolumbien geht oder die übernächste Generation wird’s auch schon heikel am Abendessentisch. Die Welt ist eben ungerecht. Wer immer auch „die Welt“ ist. Wir anscheinend nicht.

Unser Predigttext ist da sehr realistisch. Es ist fast so, als hätte der Philosophenkönig Salomo bei uns auf dem Sofa Tagesschau gesehen: "Dies alles hab ich gesehen in den Tagen meines eitlen Lebens: Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde in seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit." 1500 Kapitolstürmer werden von einem Präsidenten begnadigt, der für eben diese Randale verantwortlich war. Die Menschenrechtsverletzungen in Russland und dem Iran nehmen weiter zu. 10 Prozent der Weltbevölkerung besitzen etwa 76 Prozent des gesamten Weltvermögens. Menschen, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben, können kaum von ihrer Rente leben. Wir alle könnten die Liste der Ungerechtigkeiten endlos fortführen. Die Welt ist eben ungerecht. Wie gehen wir damit um?

Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest, rät der Philosophenkönig Salomo und: Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit. Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen. Das klingt zunächst nach einem sehr faulen Kompromiss. Sei bitte nicht allzu gerecht, aber bitte auch nicht allzu gottlos. Wurschtel dich irgendwie so durch, finde ein Mittelweg zwischen himmelhohen Ansprüchen und den irdischen Gegebenheiten.

Das Buch des Predigers, das wohl aufgrund seiner Weisheit dem großen König Salomo zugeschrieben wurde, ist das Buch der Realpolitik. Es entstand übrigens auch in einer Zeit der Umbrüche, wo plötzlich alles in Frage stand, was früher galt. Der Prediger ist also so etwas wie ein Zeitgenosse von uns. Und seine Analyse ist: Alles ist eitel, alles fließt, alles geht dahin, nix neues unter der Sonne, darum genießt das Leben, solange ihr könnt. Und, ja: Es gibt Gott, aber mehr kann ich ehrlicherweise auch nicht sagen. Das ist so ungefähr die Shortstory des Predigers Salomo. Und das ist vielleicht nicht die schlechteste Botschaft für unsere bewegten Zeiten.

Vor drei Wochen haben wir eine neue Regierung gewählt und manchmal wünschte ich mir Politikerinnen und Politiker, die nicht allzu gerecht und weise daherkommen, die trotz einer unbarmherzigen Medienlandschaft den Mut haben einzustehen: Wir sind nicht unfehlbar, wir haben die Wahrheit nicht gepachtet, und wir kriegen diesen Karren hier nur gemeinsam aus dem Dreck. Und auch wir alle zusammen schaffen es nicht, den Himmel auf Erden zu zimmern. Aber lasst uns versuchen, dass nicht jeder von uns Recht behält, sondern dass möglichst viele Recht bekommen. Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. Und sei nicht allzu gottlos.

Der Prediger Salomo verlangt keine reine Weste, dazu hat er viel zu viel gesehen. Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Im Gegensatz zur unbarmherzigen Medienland-schaft, die keinen Fehler verzeiht, weiß er: Erstaunlicherweise gibt es keine perfekten Menschen, und da Politiker ja irgendwie auch Menschen sind: keine perfekten Politi-ker. Die sauersten Moralapostel tragen heute keinen Talar mehr, sie tragen schnelle Brillen, ab 45 einen dichten Vollbart und Wollmütze und machen irgendwas mit Medien in Hochglanz. Und es ist zugleich eine Humorindustrie, die sich über alles lustig macht und sich die Schenkel blutig klopft, wenn irgendjemand in der Gesellschaft auf dem glatten Parkett ausgerutscht ist: Guck mal, nicht mal der ist perfekt! Der Scholz zu langweilig, der Merz fliegt privat, der Habeck kann nicht Heizung und die Weidel… lassen wir das. Es ist eine unendliche Häme im Umgang miteinander, die alles zerreißt, das auch nur ansatzweise Angriffsfläche bietet. So kann Politik nicht gelingen. Und auch normales zwischenmenschliches Leben nicht. Denn wir lernen ja dank der Medien ganz schnell und dank Social Media noch schneller: Wenn die aufeinander herumhacken und auf den Fehlern der anderen herumreiten: Dann dürfen wir das doch auch, oder?

Aber wie anfangs gesagt: Manchmal hat mensch mehr Zeigefinger, als ihm eigentlich guttun. Wer mit dem Zeigefinger wedelt, kann nicht gleichzeitig die Hand reichen. Der Realo Salomo schlägt ein neues Konzept vor, das sich so weit ich weiß in keinem Parteiprogramm findet, ich fürchte übrigens auch: in keinem aktuellen Strategiepaper der Kirche. Das Konzept heißt „Gottesfurcht.“ Wir sind uns hoffentlich einig, dass Gottesfurcht etwas anderes ist als Gottesangst. Gottesfurcht heißt zunächst die nüchterne Erkenntnis: Ich bin nicht Gott und somit auch nicht Richter. Ich bin fehlbar. Und es heißt zugleich: Dennoch bin ich nicht aus der Verantwortung entlas-sen. Ich bin begabt. Ich verdanke mich mir nicht selbst. In bin ein Gotteskind mit ins-gesamt zehn Fingern. Und nur zwei davon sind Zeigefinger. Ich darf und muss Unrecht ansprechen. Ich darf und muss die Wahrheit sagen. Aber ich darf und muss sie – nach Max Frisch - meinem Gegenüber wie einen warmen Mantel hinhalten und sie ihm nicht wie einen nassen Lappen um die Ohren schlagen.

Dies alles hab ich gesehen in den Tagen meines eitlen Lebens, sagt Realo Salomo. Sein Buch ist keine hohe Theologie. Ich werde nicht versuchen, es aufzupimpen, denn manchmal braucht es gar keine hohe Theologie, sondern die ganz banale Botschaft: Riskier keine dicke Lippe und bau nicht zu viel Mist. Wenn wir uns darauf verständigen könnten, wäre schon viel gewonnen. Dann kann es ab nächsten Sonntag hier auf der Kanzel wieder mit der höheren Theologie weitergehen. Amen.

 

- Jan Freiwald, 16.3.25